Montag, 3. August 2009

das „zirkuspferdchen-syndrom“

Wunderkinder mit ihren unfassbaren, unerlernten Talenten beeindruckend. Besonders erstaunlich ist es, wenn ein Junge, der – gerade mal sechs Jahre alt – die Arie der Königin der Nacht für Kolloratursopran aus Mozarts Zauberflöte in einer Fernsehshow singt. Für Max Emanuel Cencic begann mit dem Auftritt die Gesangskarriere: mit 10 Jahren sang er bei den Wiener Sängerknaben, mit 16 Jahren folgte die Solo-Karriere als Countertenor (Sopran). Doch nach Hunderten von Auftritten ein Jahr später brach er auf einer Tournee zusammen. Als Zirkuspferdchen-Syndrom soll er den Rummel um ungewöhnlich talentierte Kinder genannt haben. Und bei aller Bewunderung ist dies schon verständlich, denn ein wenig unnatürlich mag ein sechsjähriger Kolloratursopran schon gewirkt haben, ein wenig aufgeputzt und vorgeführt.




Überhaupt sind die mit Kopfstimme singenden Countertenöre kein Ausbund an Natürlichkeit, sie spielen mit dem Changieren zwischen Frauen- und Männerstimmen und der Diskrepanz zwischen Tonhöhe und äußerem Erscheinungsbild. Dennoch scheinen sie mit der historischen Aufführungspraxis eine „neuen Renaissance“ zu erleben: über Stars, von denen nur Philippe Jaroussky, Andreas Scholl, David Daniels beispielhaft genannt seien, wird geredet und geschrieben. Diese Aufmerksamkeit für Countertenöre ist jedoch wahrscheinlich harmlos gegen das Theater um Kastraten. Wie muss es erst barocken Stars unter den Kastraten wie Farinelli ergangen sein. Wegen des Schweigegebots für Frauen in der Kirche wurde die Entmannung von Jungen zunächst als Ausweg, dann als stimmliches Schönheitsideal entdeckt. Kastraten lebten auch von der Künstlichkeit, der Vorführung. Die Maniriertheit des Barock hat die Gesangsform nicht umsonst hervorgebracht. Infolgedessen boomte das Gewerbe: Rekruteure streiften durch Italien um Eltern ihre Söhne abzukaufen; es sollen im 18. Jahrhundert sogar bis 4000 Jungen pro Jahr kastriert worden sein. Der wohl letzte Kastrat, Alessandro Moreschi, starb erst 1922. Er ist auch der einzige, dessen Stimme durch Aufnahmen in den Jahren 1902 und 1904 der Nachwelt erhalten blieb. Allerdings wirkt der Gesang mit heutigem Ohr als ganz schönes Geleier; auch dann, wenn man berücksichtigt, dass in den Jahren seine Hochzeit schon vorbei und die der Aufnahmetechnik noch lange nicht erreicht war. Genausogut können die für das Leiern verantwortlichen portamenti (das Ziehen von einem Ton zum anderen) auf den damaligen Geschmack zurückzuführen sein.




Papst Pius X. 1904 strebte danach die Kirchenmusik wieder deutlich von der profanen abzugrenzen, mehr wie ein gregorianischer Choral sollten die liturgischen Sänger klingen. „On the same principle it follows that singers in church have a real liturgical office, and that therefore women, being incapable of exercising such office, cannot be admitted to form part of the choir. Whenever, then, it is desired to employ the acute voices of sopranos and contraltos, these parts must be taken by boys, according to the most ancient usage of the Church.“ Mit dem Verbot der Kastraten in der Kirche hat Papst Pius X. die Zeit der Maniriertheit zurückgedreht. Natürlich ist andererseits auch gerade das Artifizielle anziehend. Genausogut könnte man vieles als Übernatürlichkeit begreifen, nicht ohne Grund wurde Alessandro Moreschi schließlich als Engel von Rom bezeichnet. Aber trotz allem Talent und aller Bewunderung: Wunderkinder sind eben auch dressiert.

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